Jamila Adeli zu den Bildern, welche in der Ausstellung „Unsichtbare Übernahme“ in der Asperger Gallery gezeigt wurden
Im Archiv des Stillstands – Katharina Wagner begegnet der Bildgeschwindigkeit
Katharina Wagners Atelier ist eine Suchmaschine, eine große Bilderfabrik. Aus Podcasts, YouTube, virtuellen Foto-Essays und anderem found footage entzieht sie dem Internet Bildvorlagen, sortiert sie in ihre gedankliche Bilderwelt und archiviert sie – in Kunstwerken. Die virtuellen Eindrücke werden zu Abdrücken auf Material und sie scheinen die Welt zu entschleunigen. Die Entschleunigung der Welt geschieht durch eine Entblätterung der Bilder: Durch ein Abziehen von Bildschichten zur Freilegung des visuellen Kerns. Wagner schaltet den Ton aus, der zuvor das Bild begleitete, sie löscht visuelle Nebenschauplätze und zieht ihren Bilderfund bis auf das letzte Hemd aus.
Im Modus der Malerei und Fotografie will Wagner selbst sehen und uns zeigen, was nach einem Durchlauf durch die Virtualität übrig bleibt. Sie hält an den Einzelbildern fest, die sonst keiner sieht oder braucht und die unbemerkt dem Auge entgleiten. Obwohl Wagner ihnen ihre Geschwindigkeit nimmt und sie unbeweglich auf einen Bildträger fixiert, verlieren sie dennoch nicht an Dynamik. Im Gegenteil, sie scheinen beständig zusammenzustreben, egal wie weit man sie auseinander hängt: Jedes Bild steht für sich und entfaltet dennoch im gehängten Kollektiv an einer Wand seine ganze Wirkung.
Wir sehen zunächst Einzelbilder, gemalt in Öl auf Leinwand, eingefasst in ein gerechtes Seitenverhältnis von 60 x 60 cm oder im Format von 135 x 75 cm. Erkennen ist schwer, denn Wagner zeigt nichts Vertrautes. Das, was man sieht, ist zunächst eine aufgetragene Farbmasse, abstrakt, beinah formlos. Es dauert nicht lange, und die Möglichkeit einer Form, eines Motivs deutet sich an. Man möchte den Rahmen größer ziehen, die Linse schärfen und die Belichtung justieren, um zu sehen was Wagner malt. Welchen Standpunkt der Betrachter wählt, wie oft er auch immer zwischen Nähe und Ferne changiert, die Gemälde der Künstlerin bleiben unscharf, fragmenta- risch. Fetzen aus großen Bilderwelten. Sie fixiert sie in malerischer Verfremdung auf die Leinwand, rasch und intuitiv. Jeder Eindruck bekommt sein Bild, hinterlässt seinen visuellen Abdruck. Sichtbare Übernahme aus der Unsichtbarkeit.
Katharina Wagner gibt ihren Bildern ungewöhnliche Titel. Das Unbehagen, das die Gemälde in ihrer abstrakten Fremdheit streuen, wächst mit dem Entdecken der Bildtitel, die ebenfalls Zitate des Internets – oder genauer: gefundene Bildkommentare – sind: „Schwarze Hühner“, „Überleben die Einzelteile?“, „Schneide Dir einfach die Beine ab“ oder „Morgens auf nüchternen Magen“. Anstatt zu füllen, vergrößern sie die Leerstelle, die jedes Gemälde im Kopf des Betrachters hinterlässt. Gleichzeitig kommentieren sie den fremden Seh- Eindruck. Herausgerissen aus dem virtuellen Kontext formieren die Bildtitel ein eigenes Narrativ. Neben der Welt der Bilder hinter- lässt Wagner damit eine Parallelwelt der Worte, ein Zitatengewebe im Kopf des Betrachters.
Die Überflutung der Welt mit Bildern, die Schnelligkeit mit der sie für uns verfügbar sind, die Vielfalt von Abrufmöglichkeiten und die sofortige Rückverfolgung zu ihren Sendern beeinflussen unsere Wahrnehmung. Mit dem Internet erreichen wir eine totale Industri- alisierung der menschlichen Wahrnehmung, die unser Verhältnis von Körper und Raum entscheidend beeinflusst. Die Industrialisierung machte die Mobilität der Menschen zur Normalität. Um zu sehen, mussten wir uns stets bewegen. Die Industrialisierung der Wahrnehmung hingegen, also die Einführung von Technik zur Produktion und Distribution von Wahrnehmungen, dreht jene Verhältnisse wieder um: Wir können die Welt sehen, ohne uns rühren zu müssen. Im Bruchteil einer Sekunde und mit minimalem Bewegungsaufwand wird sie uns überall dorthin gebracht, wo wir sie konsumieren wollen. Und dort, wo das Internet allgegenwärtig ist, kann auf Mobilität verzichtet werden.
Die Industrialisierung des Blicks ist die Verortung des Menschen an das Bild. Für den Philosophen Paul Virilio ist dies der Grund für einen allmählichen Verlust der Realität: Je mehr wir die Welt visualisieren und je schneller wir in den Bilderwelten blättern,
desto mehr kommt uns das Gefühl für die Realität abhanden. Es scheint, als seien uns die Bilder zu nahe gekommen. Die Realität ist überbelichtet worden, wodurch sie unkenntlich wird. Wo alles zu sehen ist, gibt es nichts mehr zu erkennen.
Katharina Wagner arbeitet gegen die Erblindung bei offenem Auge, gegen die Industrialisierung des Blicks und für die Sichtbarkeit des Realen. Sie wehrt sich gegen die Bildgeschwindigkeit und tritt für die visuelle Entschleunigung ein. Dem Verschwinden der Realität, ihre Transformation in die Sichtbarkeit kommt sie mit malerischer Entblätterung bei. Man könnte sagen, Wagner malt ein Archiv des Stillstands.
Was sie nicht malt und trotzdem zeigen will, visualisiert sie in großformatigen Fotografien, die zunächst im Gegensatz zur gemal- ten Detailaufnahme stehen. Titellos verweisen sie im ebenfalls präzise gewählten Ausschnitt auf das Vorhandensein von Realem, jedoch in gänzlich anderer Weise. Die großformatigen Fotografien sind klar, raumbetont und detailgenau. Die Künstlerin beherrscht den Umgang mit dem Bildraum, dessen Inszenierung und das Verhandeln von Blickachsen so gut, dass der Eindruck entsteht, sie drehe einen Film, in der einzig der Raum die Hauptrolle spielt.
„Ohne Titel“ (2006) zeigt exemplarisch ein filmisches Spiel mit der Wahrnehmung des Raumes. Ähnlich der Farbfeldmalerei des Künstlers Mark Rothko sehen wir zunächst ein flächiges Bild mit drei unterschiedlich opaken Farbflächen. Während ein kräftiges Orange die rechte Bildhälfte deckt, beginnt in der linken Hälfte der Fotografie ein weißlicher Fleck in das Bild zu wandern, der die ganze Fläche in ein helles weiches Orange-Gelb taucht. Von oben senkt sich über beide Farbfelder hinweg eine weiße Wand, die der Fotografie einen schiefen Horizont verpasst. Über jenes Spiel aus der Schärfe und Unschärfe der Farben öffnet sich dem Betrachter das Bild in den Raum. Vertikal, fast die Mittellinie bildend verläuft ein heller Balken, der sich als nach hinten geöffnete Tür entpuppt. Die weiße Wand, die von oben ins Bild rutscht, verbindet das scharfe mit dem unscharfen Farbfeld, sie reizt zur Wahrnehmung einer durch- gehenden Linie. Die Kamera ist so positioniert, dass sie dem Betrachter einen Lichtschalter anbietet: stechend scharf taucht er aus dem Bild und suggeriert die Möglichkeit, die Lichtverhältnisse der linken Bildhälfte per Knopfdruck zu verändern und damit das Sehen schärfen zu können: Wie sieht der Raum aus, an dessen Schwelle die Kamera zu stehen scheint?
Mit dem Drücken des Auslösers provoziert die Künstlerin das Einfrieren der Zeit auf einen Fixpunkt. Auch in ihren Fotografien fängt sie genau jene Einzelbilder ein, die sich sonst in der bewegten Wahrnehmung des menschlichen Auges oder im Bewegungsbild des Filmes verlieren. Wagners malerisches wie fotografisches Ergebnis ist jeweils die Belichtung eines visuellen Fixpunktes, der in einem sichtbaren Einzelbild aufgeht.
Wagner oszilliert zwischen dem technischem Visualisieren der Fotografie und dem kognitiven Sehen der Malerei: Während sie das virtuelle Bild von seiner Technik befreit und es malend der Realität zurück gibt, schafft sie mit ihrer Fotografie die Perfektion eines Raumeindrucks, den wir mit bloßem Auge niemals sehen könnten. Ihre Arbeiten sensibilisieren das Auge und schützen es vor der Erstarrung des Blicks. Katharina Wagners Kunst ist sinnlich, wortwörtlich ästhetisch. Dasein in der Welt – so scheinen die Bilder zu sagen – heißt sichtbar sein, wahrnehmbar sein. Ihre Kunst lässt uns wiederfinden, was wir unmerklich im Alltag des Sehens verloren haben: das Detail im Moment, das Unbehagen des Realen, den Stillstand im Bild.
Jamila Adeli